Robert Gordian

Das Grab des Periandros : antike Mordgeschichten

Berlin : Neues Leben, 1992

(Es sind nur die in römischer Zeit spielenden Geschichten aufgenommen.)

»Thessalus IV«

Inhalt

[171 v. und 169 v. Chr.] Vor einer Senatssitzung unterhalten sich einige Senatoren über ihren kürzlich verstorbenen Standesgenossen Naevius Papus. Einer von ihnen, Valerius, erzählt, wie er einmal als Gast bei Naevius auf dessen suburbaner Villa übernachtete und dabei miterlebte, wie der ältere Sklave Milphio von seinem jüngeren Genossen Thessalus getötet wurde, wohl aus Eifersucht; Naevius hatte Milphio mit der jungen Sklaven Myro verkuppelt, die, wie sich herausstellt, aus derselben Stadt stammt wie Thessalus (der eigentlich Lykon heißt) und mit ihm sogar verlobt war. Naevius handhabt die Affäre in den Augen seines Gastes etwas seltsam: er überläßt Thessalus einem Standgericht der Sklaven, die ihn zum Tod am Kreuz verurteilen. Valerius findet heraus, daß Naevius die ganze Sache arrangiert hat, um zugleich einen alten nutzlosen Sklaven (Milphio) und einen Nebenbuhler loszuwerden. Denn Thessalus/Lykon hat geschworen, jeden zu töten, der Myro nahetritt, und Naevius hatte sie sich eigens als Geliebte kommen lassen.

Bewertung

Die nicht ungeschickt aufgebaute Geschichte leidet ein wenig unter ihrer politischen Tendenz. Ziemlich penetrant werden die Römer als Sklavenhalter geschildert, denen jede menschliche Neigung gegenüber ihren Leuten abgeht.

»Der Tod des Dichters Clutorius Priscus«

Inhalt

[19–21 n. Chr.] Der römische Ritter Clutorius Priscus, ein erfolgloser Dichter, leidet unter den Vorwürfen seiner Frau Tullia. Als er aber ein Trauergedicht auf den verstorbenen Thronfolger Germanicus schreibt, das großen Anklang findet, genießt sie es, im gesellschaftlichen Mittelpunkt zu stehen. Doch das ändert sich wieder, als Kaiser Tiberius die Trauer per Edikt beendet. Tullia ist wieder so unzufrieden mit ihrem Mann wie zuvor. Als sie ihm eines Morgens mitteilt, daß auch der jetzige Thronfolger, der Kaisersohn Drusus, gestorben ist, verfaßt Priscus in kurzer Zeit auch auf diesen ein Trauergedicht. Doch Drusus ist gar nicht tot. Auf Vorschlag von Tullia trägt Priscus das Gedicht dennoch auf einer Gesellschaft bei einer Freundin seiner Frau vor, als angeblich auf einen toten Helden gedichtet. Doch die Zuhörer erkennen schnell, daß der noch lebende Drusus gemeint ist. Es kommt zu einem Skandal, und Priscus wird wegen maiestas angeklagt und hingerichtet.

Bewertung

Das Material für diese Geschichte liefert, wie der Autor am Schluß selbst andeutet, eine Stelle bei Tacitus (ann. 3, 49–51). An die dort geschilderten Einzelheiten hat Gordian sich recht genau gehalten. Er hat auf eine Wiedergabe der Senatsdebatte verzichtet und dafür die bei Tacitus nicht erwähnte Frau des Priscus als treibende Kraft eingeführt. Das Ganze ist durchaus geschickt gemacht.

»Die Sänfte«

Inhalt

[Februar 69 n. Chr.] Hilarius, der verarmte Nachkomme einer einst bedeutenden römischen Familie, ist Client beim reichen Senator Balbus. Bei der morgendlichen salutatio möchte er seinen Patron um eine neue Toga bitten, doch Balbus macht sich nur über ihn lustig. In seiner Wut plant Hilarius, Balbus, der seine Familie ruiniert hat, im Bad zu ermorden, bringt es aber nicht fertig. Als Hilarius am Abend in seinem ärmlichen Zimmer den Mord einübt, erscheint auf einmal Balbus; er ist von einer Feier beim Kaiser Otho geflohen, bei der Praetorianer auf angebliche Gegner des Kaisers losgegangen waren. Obwohl Hilarius nun eine Gelegenheit hätte, seinen Plan umzusetzen, schafft er es wieder nicht und läßt sich weiter von Balbus herumkommandieren. Er läuft zu Balbus’ Haus, um ihn seine Sänfte für die sichere Rückkehr zu besorgen. Völlig erschöpft, setzen ihn die Träger in die Sänfte, damit er ihnen den Weg zu seiner Wohnung zeigt. Unterwegs treffen sie auf einen Trupp Praetorianer, die Hilarius in der Sänfte für einen Senator halten und ihn umbringen.

Bewertung

Auch diese Geschichte beruht auf einer Episode bei Tacitus (hist. 1, 80–85). Gordian malt aus, wie die von der Feier bei Otho geflohenen Senatoren amicorum tecta et ut cuique humillimus cliens, incertas latebras petivere. Den Akzent setzt er dabei nicht auf die Revolte der Praetorianer, die Otho bei Tacitus dann in einer langen Rede tadelt, sondern auf die Beziehung zwischen Balbus und seinem unzufriedenen, aber zu keiner entscheidenden Tat fähigen Clienten Hilarius. Wenn dieser schließlich sogar an Stelle seines Patrons umgebracht wird (bei Tacitus ist keine Rede von tatsächlichen Übergriffen der Praetorianer), kann man darin eine implizite Sozialkritik sehen, die, wie auch »Thessalus IV«, eine Anklage gegen die römische Oberschicht aus sozialistischer Perspektive enthält.