Erwin Wickert

Der verlassene Tempel

Stuttgart, DVA, 1985;
Reinbek : Rowohlt, 1987

(Zur Inhaltsangabe)

Bewertung

Eine Nacherzählung wird dem Roman in keiner Weise gerecht. Es soll hier auch keine vollständige Einschätzung vorgenommen werden. Wickert gelingt es auf sehr unterhaltsame, aber doch anspruchsvolle Weise, das Problem der Natur der Zeit zu erörtern. Die Handlung selbst bleibt bis zum Schluß offen.

Wenn man sich auf die genuin historischen Elemente des Romans beschränkt, so bleibt festzuhalten, daß Wickert recht genau informiert ist über die Umwelt, in die er Carow und Jule setzt (auch wenn den beiden ebenso wie dem Leser nie ganz klar wird, ob es nicht doch nur eine Phantasiewelt ist). So hat der Autor den fast unbekannten Kaiser Carus der Vergessenheit entrissen, wie er es zwanzig Jahre zuvor schon mit dessen Vorgänger Quintillus getan hat. Daß er sich dabei die Freiheit nahm, einen Kaiser, der während seiner nicht einmal einjährigen Herrschaft ständig im Kampf (gegen Sarmaten und Perser) stand, auf eine friedliche Reise durch Italien zu schicken, läßt sich verzeihen. Die Realien, was z. B. das Hofprotokoll betrifft, sind im ganzen getreu wiedergegeben, was man auch von der kleinen Welt des Municipiums Velia sagen kann (von Einzelheiten abgesehen; so wurden Duumvirn nicht jährlich wiedergewählt). Pholarchen kennen wir aus Inschriften des kaiserzeitlichen Velia, auch wenn ihre Funktionen im Einzelnen nicht völlig klar sind (vgl. Kathryn Lomas, Rome and the Western Greeks [New York, London, 1993], 140, S. 176–177): sie waren wohl Priester im Dienst des Heilgottes Apollon Ulios, scheinen später aber in den munizipalen Cursus von Velia einbezogen zu sein.

Mittelalterlicher Turm auf den Ruinen eines Tempels in Velia
Mittelalterlicher Turm auf den Ruinen eines Tempels in Velia
Photo: Leonardo Mucaria; Quelle: flickr; Lizenz: CC-BY-NC-ND

Inhalt

(Die Handlung verfällt in zwei Stränge, die im unteritalischen Velia im Jahr 282 oder 283 n. und in der Jetztzeit Anfang der 1980er Jahre spielen; beide werden abwechselnd erzählt (die Jetztzeit in der ersten Person) und beziehen sich aufeinander, was eine kurze Inhaltsangabe sehr schwierig macht.)

Jetztzeit: der Mathematiker Jule versucht, eine Illustrierte für ein Manuscript seines ehemaligen Professors Carow zu interessieren, das von dessen Zeitreise in das antike Velia berichtet. Der Chefredakteur der Illustrierten betraut seinen Reporter Meyer-Proske (den Ich-Erzähler) damit, zusammen mit Jule aus dem Manuscript ein Buch zu machen.

Antike: der Heidelberger Mathematik-Professor Walter Carow hat in jahrelanger Arbeit eine Formel entworfen, die zu einer Reversion der Zeit führt. Er läßt sich damit aus einem Jahr Anfang der 1960er in das antike Elea (Velia) versetzen, um den Philosophen Parmenides zu treffen. Durch einen Rechenfehler gelangt er aber nicht in die Zeit des Parmenides, sondern viele Jahrhunderte später in die römische Kaiserzeit, wo er auf den Stufen eines verlassenen Tempels oberhalb der Stadt ankommt. Die Magistrate von Velia werfen ihn zunächst in den Kerker, wo er einen germanischen Büttel (dessen Sprache Carow nicht versteht, obwohl er sich als Germane bezeichnet hat) und einen Mitgefangenen trifft, der beim Besuch des Kaisers in der Arena kämpfen soll. Einer der Duumvirn von Velia läßt Carow nach einiger Zeit frei, nachdem sich der Pholarch, der Leiter der eleatischen philosophischen Schule, für ihn verwandt hat. Carow sucht noch einmal den Tempel auf, wo er feststellt, daß sein dort verstecktes Gepäck verschwunden ist. Er trifft einen seltsamen Mann namens Inuus; wie sich später herausstellt, ist er der Hirtengott, dem der Tempel geweiht ist. Carows Gepäck haben Ollius Rufus und seine Frau Serena, die in der Nähe ein Landgut bewirtschaften, an sich genommen. Sie nehmen Carow bei sich auf, der bereits eine geradezu göttliche Verehrung genießt. Einige Zeit später findet der Pholarch heraus, wo sich Carow aufhält, und holt ihn in die Phole. Die dortigen Philosophen haben Carows Zeitreise veranlaßt, um von ihm zu erfahren, was die Natur der Zeit sei; sie sind sehr enttäuscht, als sich herausstellt, daß man darauf auch viele Jahrhunderte später noch keine eindeutige Antwort geben kann.

Auch Carows Assistent Jule läßt sich in die Antike versetzen und zieht in die Phole ein, wo die beiden Zeitreisenden u. a. an der Geburtstagsfeier für Parmenides teilnehmen. Carow verbringt eine Nacht mit Serena in dem verlassenen Tempel, wo er den Gott Inuus wiedertrifft, mit dem er sich anfreundet. Wie der Pholarch verfällt auch Inuus dem Genuß der von Carow mitgebrachten Zigaretten.

Anläßlich des bevorstehenden Besuchs des Kaisers will die Stadt Velia den alten Tempel abreißen und durch einen Altar für den Kaiserkult ersetzen. Carow und Jule protestieren vergeblich beim Duumvirn Iulius Longus gegen den Abriß. Als Longus zur Tat schreiten will, schrecken sie ihn durch eine Sprengladung davon ab, die allgemein als ein Wunder gilt. Auch Carow tut in den Augen der Bevölkerung ein Wunder: Serena bewahrte eine Kultstatue auf, die die Landleute für den bereits als Gott angesehenen Carow errichtet hatten. Der eifersüchtige Ollius Rufus will die Statue wegschaffen, verletzt sich dabei aber so schwer, daß er stirbt. Sein Tod gilt als Rache des Gottes Carus (wie Carow genannt wird). Als der Zigarettenvorrat zur Neige geht, besuchen die Philosophen der Phole, die ebenfalls die Zeitreise beherrschen, das neuzeitliche Heidelberg und kaufen eine große Menge Zigaretten.

Der Kaiser Carus erscheint mit seinem Hofstaat und macht die Bekanntschaft seines "Namensvetters", mit dem er sich im Gewichtheben mißt. Jule will gegen Carows Willen vor dem Kaiser eine Demonstration moderner Technik veranstalten, die zunächst mißlingt; Jules geheimnisvoller Helfer, der diabolische Myagrios, bringt dann aber eine Maschinenpistole, mit der Jule auf Wunsch des Kaisers den Gardepräfekten erschießen soll, dem der Kaiser mißtraut. Jule will sich durch einen Fehlschuß aus der Affäre ziehen, trifft aber das Lieblingspferd des Kaisers und erschießt dann auch den jubelnden Gardepräfekten.

Jule soll wegen der Tötung des Pferdes hingerichtet werden. Carow versucht den Kaiser, der ihn inzwischen für ein göttliches Wesen hält, um Gnade zu bitten, erhält aber nur den Ratschlag, für ein Wunder zu sorgen. Mit Hilfe von Inuus ereignet es sich tatsächlich: als Jule in feierlicher Prozession zur Hinrichtung geführt wird, erscheint ein Flugzeug der Alitalia am Himmel. Jule wird vom Kaiser sofort begnadigt, der auch einen Kult und Tempel für den Gott Carow/Carus dekretiert.

Also wird Serena die Priesterin des Carus und richtet ein vorläufiges Heiligtum (mit der alten Kultstatue) in ihrem Haus ein; viele Menschen kommen, um vom Gott Carus Heilung zu erlangen. Das eigentliche Heiligtum soll in dem verlassenen Tempel sein. Dort wird Carus zum Parhedros des Inuus, der ihm zu erklären versucht, was es bedeutet, ein Gott zu sein. Bei der feierlichen Überführung seiner Kultstatue in den Tempel streift Carow alles Menschliche ab. Jule wird durch eine Explosion wieder in die Neuzeit geschleudert.

Neuzeit: Meyer-Proske versucht, das Manuscript zu verifizieren, das Jule in der Ausgrabungsstelle von Velia dort wieder ausgegraben haben will, wo er es in der Antike versteckte. Tatsächlich finden sich Bestätigungen für den Besuch der Philosophen in Heidelberg und das Erscheinen einer Alitalia-Maschine in der Antike. Doch der Chefredakteur der Zeitschrift stoppt das Projekt, weil ihm logische Fehler in Jules Geschichte auffallen. Auch Meyer-Proske hat gewisse, wenn auch nicht laut ausgesprochene Zweifel, weil er erfährt, daß Jule lange Zeit (gar die ganzen 20 Jahre seit dem Verschwinden von Carow aus Heidelberg?) in einer Nervenheilanstalt war. Bei einem Besuch in der Spielbank machen Jule, Meyer-Proske und ihre Freundinnen einen riesigen Gewinn. Meyer-Proske wirft seine Arbeit hin, Jule kehrt wieder nach Velia zurück, wie er Meyer-Proske schriftlich mitteilt; er bietet dem Journalisten eine einzige Möglichkeit, ihm nachzufolgen. Meyer-Proske steht nun vor der schwersten Entscheidung seines Lebens.

In Velia besucht Jule den Tempel des Carus, der sich ihm nur mehr in seiner göttlichen Gestalt offenbart.

Erstellt 1995
2. Januar 2007: Abschnitte umgestellt, Bild